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Timm Starl

Technischer Hintergrund
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Movens Moveor

Ein Anagramm ist laut Duden die „Umstellung der Buchstaben eines Wortes zu anderen Wörtern mit neuem Sinn“. Das stimmt nicht ganz, beziehungsweise nennt man heute die Veränderung mehrerer Worte oder eines Satzes durch andere Reihung der Buchstaben gleichfalls ein Anagramm. In jedem Fall geht es darum, Einzelteile aus einem gegebenen Zusammenhang herauszulösen und aus ihnen einen neuen zu konstruieren. Dabei können mehrere Lösungen mit ganz unterschiedlichem Sinngehalt entstehen, und würden nur diese neuen Versionen bekannt sein, nicht aber das ursprüngliche Wort oder der ursprüngliche Satz, so erschienen die neu gebildeten Sätze und Worte reichlich rätselhaft. Deshalb steht bei Anagrammen die originale Fassung, von der alles seinen Ausgang genommen hat, immer am Ende.

Michael Sardelic verwendet statt der Worte Bilder und er verweigert uns die Ansicht der ursprünglichen Situation. Auch er beginnt mit dem, was er in der Wirklichkeit vorfindet und entsprechend arrangiert. Das Arrangement besteht darin, dass er sich nicht mit dem ersten Anschein begnügt, sondern nebeneinander stellt, was sich eigentlich übereinander befindet, oder manches erst miteinander in Verbindung bringt. Die einzelnen Teile werden fotografiert und – durch digitale Bearbeitung – von ihrer natürlichen Umgebung isoliert. Zum Beispiel entstehen aus einer darniederliegenden schwerkranken Frau je einzelne Bilder eines leeren Bettes, der verwendeten Kleidungsstücke sowie der halbnackten Frau vor und nach ihrem Tod. Person und Gegenstände werden aus dem Zusammenhang ihrer Existenz gerissen. Das Krankenzimmer, in dem die alte Patientin darniederlegt, ist nicht zu sehen, sondern lediglich ihr halbentblößter Körper, Nachthemden, Hausschuhe, ein leeres Bett.

Der Fotokünstler konfrontiert den Betrachter also mit einer neuen Konstellation, ohne die frühere preiszugeben. Wir stehen sozusagen inmitten eines Anagramms, vor uns die einzelnen Wortfetzen – sprich Fotos –, die zunächst – jedes für sich – keinen Sinn ergeben. Dass sie zusammen gehören, wird nur daran deutlich, dass sie – wie hier in der Ausstellung – nebeneinander platziert sind und gemeinsam als Kunstwerk figurieren. Ihre Bedeutung erschließt sich jedoch nicht aus der Kenntnis, woher die einzelnen Teile stammen und unter welchen Bedingungen fotografiert worden ist, sondern was wir mit ihnen anstellen, wozu wir uns durch sie anregen lassen. Es genügt nicht, dass wir bewegt sind, weil uns die kranke Frau anrührt, sondern wir müssen uns bewegen, nämlich gedanklich, damit die einzelnen Bilder einen gemeinsamen Nenner bekommen. Aus den Worten muss ein Satz gebildet, aus den Bildern ein Sinn erschlossen werden. Die produktive Auseinandersetzung mit Bildern besteht – ganz grundsätzlich – ja nicht darin, sie lediglich zu betrachten und sich an den Formen zu erfreuen, sondern sie neu zu entwerfen, sich aus dem dargebotenen Bild ein eigenes zu machen.

Im erwähnten Beispiel haben wir alle Möglichkeiten eines Anagramms. Man kann die alte Frau ins Bett legen, sie bekleiden, wir können die Liegestatt als Krankenbett oder als Totenbett denken, die Kleidungsstücke als etwas verstehen, das die Nacktheit vor zudringlichen Blicken schützt, aber auch als etwas, das körperliche Befindlichkeiten und seelische Regungen verbirgt, als eine Fassade, mit der man einen Status nach außen hin kundtut. Und lässt man all diese Varianten Revue passieren, wird deutlich, worum es bei den beiden Werkgruppen geht, die Michael Sardelic hier präsentiert. Die Rede ist von der Verletzlichkeit des Menschen und wodurch diese offenkundig wird. Anfällig sind gleichermaßen Körper und Seele, was jeweils in der Haltung der Modelle und den Dingen, die sie bei sich oder vor sich haben, zum Ausdruck gebracht wird: Die Personen liegen oder kauern, sie sind nackt oder spärlich bekleidet, sie bluten, sind krank, ans Bett gebunden. Wenn die junge Frau in der Badewanne mit einer Häkelnadel hantiert, denkt man an Abtreibung und die Verhinderung neuen Lebens; wenn eine Rasierklinge ins Bild kommt, ist Beschneidung angedeutet, die heute noch allenthalben praktiziert wird; das in die Klomuschel gefallene Handy bedeutet den Verlust von Kommunikationsmöglichkeiten; die an Rauschgift erinnernden Kügelchen an gleicher Stelle sprechen von der möglichen Veränderung der Persönlichkeit.

Michael Sardelic liefert eine Reihe von Anhaltspunkten, uns über die Gefährdungen klarzuwerden, seien sie im Alltag oder im Alter begründet, in der Natur des Menschen oder in den kulturellen Gegebenheiten. Immer besteht die Gefahr des Verlusts sozialer Bindung oder sozialer Kompetenz, aber auch von individueller Eigenart und selbstbestimmter Ausrichtung. Der Künstler zeigt jedoch nicht mit dem Finger auf dies und jenes, sondern er liefert einzelne Indizien, ergeht sich in Andeutungen, legt Schichten frei. Es liegt am Betrachter, Zusammenhänge herzustellen. Um wieder die Sprache des Anagramms zu bemühen: Aus den Buchstaben sind neue Worte, aus diesen Sätze zu formulieren. Der Besucher der Ausstellung übernimmt den kreativen Part, die Rolle eines Künstlers, der die Anagramme des Michael Sardelic zurückführt auf die eigentlichen Bedeutungen des Daseins, indem er neue Fragen stellt: an sich, an die Gesellschaft, an die Kunst.



Timm Starl (Kulturwissenschaftler, Ausstellungskurator, Fotopublizist, Wien)
Rede zur Eröffnung der Ausstellung Michael Sardelic - "Layers"
im Museum Innviertler Volkskundehaus
17. September 2009


Technischer Hintergrund


Die Arbeiten zu diesem Projekt bestehen aus lebensgroßen Fotografien von Menschen und Gegenständen mit Inkjetprint auf Decolit oder PVC-Plane gedruckt, die auf Holz- oder Aludipond-Platten aufgezogen sind und im Raum stehen oder an der Wand hängen. Zu unterscheiden sind dabei Fixelemente, bei denen die Planen fest mit dem Platten verklebt sind, und abnehmbare Elemente, bei denen die bedruckten Planen mittels Klettverschluss an den Untergrundplatten haften. Die Platten sind in den Umrissen der Figuren und Gegenstände geschnitten.

Die Figuren und Elemente zu den dargestellten Situationen sind Schicht für Schicht aus der jeweils gleichen Kameraposition fotografiert und mit dem Computer aus seinem Hintergrund heraus gelöst worden. Zum Teil sind die Figuren und Elemente mit einem schwarzen (Ausschneide-)Rand versehen worden.

Dieses Projekt gliedert sich in 2 Teilserien:

  • Dress Stories
    sind Anziehfiguren in Lebensgröße mit den dazugehörenden Kleidungsstücken in gleicher Körperhaltung mit weißen Haltelaschen versehen. Hier erhalten zusätzlich zur Körpersprache der dargestellten Personen vor allem Kleidungsstücke eine erzählende Funktion.

  • Modular Stories
    bestehen aus Fragmenten fiktiver Geschichten ähnlich wie bei Auszügen aus einem Roman oder einem Film. Zu sehen sind jedoch keine bildlichen Szenen oder Filmstills, sondern die aus ihrem Hintergrund und Zusammenhang heraus gelösten Elemente/Module. die alle aus der Vogelperspektive aufgenommen worden sind. Dabei wird mitunter ein und die selbe Figur auch mehrmals mit unterschiedlicher Körpersprache, Gestik oder Gegenständen gezeigt, wie auch oftmals die selben Gegenstände oder Kleidungsstücke mit anderen oder veränderten Details mehrmals zu sehen sind.